Interview mit Michael Lorz
Michael Lorz ist Geschäftsführer von EnableMe, einer digitalen Plattform, die sich an Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen richtet. Sie wurde von der Stiftung MyHandicap ins Leben gerufen. Unter dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“ soll die Plattform Menschen mit Behinderungen dabei helfen, ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen. Im Interview spricht Michael Lorz über die gesellschaftliche Wirkung von KI, die digitale Strategie von EnableMe und darüber, warum Technologie immer auch menschliche Beziehungen stärken sollte.
Können Sie uns EnableMe kurz vorstellen?
Michael Lorz: Wir schaffen digitale Lösungen und verbinden Menschen, um die Lebensqualität von möglichst vielen Menschen mit Behinderungen möglichst stark zu verbessern.
EnableMe steht dabei für skalierbare gesellschaftliche Wirkung, überall dort, wo wir einen Beitrag leisten können, die Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen signifikant zu verbessern. Sei es beim ersten Orientieren nach einer Diagnose oder einem Unfall, bei der Suche nach Arbeit oder beim Austausch mit anderen Menschen in ähnlicher Situation. Mit konkreten Services und praktischen Angeboten begleiten wir diese Reise Schritt für Schritt.
Welchen Einfluss wird KI aus Ihrer Sicht auf die langfristige Entwicklung des Arbeitsmarktes haben?
Michael Lorz: Langfristig werden wir monumentale Veränderungen sehen. Gerne stelle ich dazu vier Gedanken in den Raum:
- KI wird in den nächsten Jahren sehr viele neue Jobs schaffen und alte ersetzen – dies erfordert Agilität und die Bereitschaft, immer wieder Neues zu lernen.
- KI wird für diejenigen mit Zugang und den notwendigen Fähigkeiten der größte Inklusionsbeschleuniger in der Geschichte der Menschheit werden.
- Es wird immer mal wieder eine S-Kurven-Entwicklung in der Technologie geben. Zum Beispiel gibt es KI ja schon lange, aber diese, uns allen bekannte, wurde erst Ende 2022 durch ChatGPT weltweit stark verbreitet. Das heißt, es wird immer wieder Pausen ohne massiven technologischen Fortschritt geben.
- Egal wie rasant die Technologie fortschreitet, ein Faktor wird immer wichtig bleiben: die Beziehung von Mensch zu Mensch. Daher setzen wir derzeit auf Technologien, die echte Verbindungen zwischen Menschen ermöglichen.
Hat das Aufkommen von KI konkret das Angebot an Stellen für Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen verändert? Sind beispielsweise bestimmte Positionen und Berufsfelder in der Berufsbörse von EnableMe hinzugekommen oder weggefallen?
Michael Lorz: In der Schweiz betreiben wir eine Jobbörse zusammen mit myAbility, in Deutschland unterstützen wir die Jobbörse von myAbility.
Auf dem Arbeitsmarkt sehen wir spannende Entwicklungen. Es entstehen neue Berufsbilder rund um den Umgang mit KI selbst – etwa Prompt Engineers, Data Annotators oder AI-Quality-Specialists, die Systeme trainieren, steuern oder prüfen. Dazu kommt ein stark wachsender Bereich im inklusiven Technologiedesign: Accessibility Tester, Inclusive UX-Designer oder Assistive Tech Product Manager gestalten digitale Produkte von Anfang an barrierefrei.
Auch viele klassische Tätigkeiten verändern sich – etwa in der Verwaltung, Kommunikation oder im Kundenservice. Dort unterstützt KI, während Empathie, Sprache und menschliches Urteilsvermögen entscheidend bleiben. Immer mehr dieser Jobs sind ortsunabhängig und flexibel – ein großer Vorteil für Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Mobilitätseinschränkungen.
Insgesamt haben heute bereits rund fünf Prozent der ausgeschriebenen Stellen einen KI-Bezug – Tendenz steigend. KI verändert also nicht nur Jobprofile, sondern auch die Art, wie und wo wir arbeiten. Und genau darin liegt ein enormes Potenzial für Inklusion.
In Ihrem Kurzprofil auf der Webseite schreiben Sie: „Ich glaube an die Skalierbarkeit von Technologie, um die Eingliederung von Menschen mit Behinderungen oder Krankheiten in großem Umfang zu verwirklichen.“ Welche Rolle spielt KI in diesem Zusammenhang?
Michael Lorz: KI ist der Game-Changer, weil es Personalisierung at Scale ermöglicht. Das heißt: Jede Behinderung ist einzigartig. KI kann individuell angepasste Lösungen für Millionen von Menschen gleichzeitig bereitstellen.
Unsere Reise (mit damals MyHandicap und heute EnableMe) begann vor über 20 Jahren mit der ambitionierten Aufgabe, das papierbasierte Wissen zu digitalisieren und Menschen mit Behinderungen und ihren Netzwerken Orientierung und Informationen zur Verfügung zu stellen. Wir hatten tausende von Seiten, und die User mussten sich die Informationen selbst zusammensuchen. Heute können große KI-Sprachmodelle sehr relevante, zum jeweiligen Kontext passende Antworten geben.
Ein weiterer Aspekt ist die Kosteneffizienz: Was früher teure Einzellösungen erforderte, wird durch KI demokratisiert. Screenreader, die früher sehr viel kosteten, könnten in Zukunft durch KI-Apps ersetzt werden, die für wenige Euro verfügbar sind. Auch Themen wie einfache Sprache werden in Zukunft nur noch einen Bruchteil der Kosten verursachen, die bei der rein menschlichen Erstellung entstehen.
Wo kommt KI bei EnableMe zum Einsatz? Bietet Ihre Webseite derzeit KI-gestützte Funktionen an oder sind solche Funktionen in Planung?
Michael Lorz: Wir arbeiten derzeit an einigen Stoßrichtungen, die sich laufend verändern. KI hilft uns (derzeit) vor allem, Informationen zu Behinderungen, Rechten und Unterstützungsleistungen individueller zugänglich zu machen. Sie erkennt Zusammenhänge, sortiert Inhalte nach Relevanz und formuliert daraus passgenaue Empfehlungen. So bekommen Menschen schneller genau die Unterstützung, die sie in ihrer Situation brauchen – das spart Zeit und schafft Orientierung.
Der jetzige Planungs- und Umsetzungsstand:
- Eine auf Inklusion spezialisierte KI-Suche, die auf unserer Website in Kürze zur Verfügung steht. Diese hat den Vorteil, dass sie einerseits erstmal auf die qualitativen Ressourcen von EnableMe zurückgreift, aber auch andere valide Partnerquellen berücksichtigt und zudem auf Beiträge aus der EnableMe Community verweist.
- Wir planen eine App, die nach Registrierung passgenaue Informationen und weitere Services zu bestimmten Themen rund um Behinderungen liefern kann.
- Wir arbeiten in der Schweiz daran, Menschen zu unterstützen, besser abschätzen zu können, welche Rechte ihnen zustehen und danach auch bessere Anträge zu stellen, die vor allem Bearbeitungszeiten und Frustration reduzieren.
- In Deutschland planen wir – abhängig von einer Finanzierungszusage – mit einem Partner einen KI-Inklusionsberater, der den deutschen Mittelstand unterstützt, besser mit der Thematik umgehen und auch Unterstützungsleistungen einfordern zu können.
- In Kooperation mit Eye-Able bieten wir einige KI-gestützte Funktionen zur Barrierefreiheit auf unseren Plattformen an, wie z.B. KI-basierte einfache Sprache und Übersetzungen in andere Sprachen.
Im Jahr 2024 konnten wir global monatlich über 250’000 Menschen nachweislich helfen. In den kommenden Jahren wird KI so viele neue Möglichkeiten schaffen. Ich freue mich auf diese Lernreise.
Das Gespräch mit Michael Lorz macht deutlich: KI ist nicht nur ein technologisches Werkzeug, sondern kann ein Katalysator für gesellschaftlichen Wandel sein – besonders, wenn es um digitale Teilhabe und selbstbestimmtes Leben geht. Entscheidend ist, dass die Perspektiven von Menschen mit Behinderungen von Anfang an mitgedacht werden – und dass Technologie nicht nur effizient, sondern auch empathisch gestaltet wird.
Genau hier setzt der KI-Kompass Inklusiv an: Als bundesweites Kompetenzzentrum vernetzen wir Akteur*innen aus Forschung, Entwicklung und Praxis, um digitale Assistenztechnologien so zu gestalten, dass sie berufliche Inklusion nachhaltig fördern. Mit unserem Technologie-Monitor geben wir einen systematischen Überblick über bestehende KI-Lösungen, während der Wissenspool fundiertes Hintergrundwissen zu relevanten Themen bündelt – von ethischen Fragen über Anwendungsbeispiele bis zu aktuellen Forschungsergebnissen. Nur wenn digitale Technologien inklusiv gedacht und gemacht werden, kann KI ihr gesellschaftliches Potenzial wirklich entfalten.