Das BFSG setzt die europäische Barrierefreiheitsrichtlinie (European Accessibility Act, Kurz: EAA) in deutsches Recht um und verpflichtet Hersteller und Dienstleister dazu, bestimmte Produkte und Dienstleistungen barrierefrei zu gestalten.
Was war der politische oder gesellschaftliche Anlass für dieses Gesetz – und welche Lücke soll es schließen?
Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz resultiert ja aus einer europäischen Richtlinie, dem European Accessibility Act, kurz EAA. Diese Richtlinie verfolgt das Ziel, die europäische Wirtschaft barrierefreier auszurichten. Zunächst vollzieht das Gesetz eine Vereinheitlichung von rechtlichen Vorgaben für den europäischen Binnenmarkt. Die im Gesetz genannten Produkte und Dienstleistungen müssen also barrierefrei sein. Somit wird die Wirtschaft zum ersten Mal verpflichtet, Anforderungen an die Barrierefreiheit umzusetzen. Ein langersehnter Wunsch der Menschen, die sich für Barrierefreiheit einsetzen, geht damit in Erfüllung.
Wie fügt sich das BFSG in das größere Bild der digitalen Barrierefreiheit ein? Inwiefern gibt es Verbindungspunkte zum AI Act?
Das BFSG knüpft an bestehende Vorgaben an und erweitert diesen Wirkungskreis vor allem auf die Privatwirtschaft. Zum ersten Mal können Behörden – die sogenannten Marktüberwachungsbehörde der Länder – prüfen, ob die Anforderungen zur Barrierefreiheit eingehalten werden.
Rein rechtlich schließt das BFSG eine Lücke, die es zwischen dem öffentlichen Recht und dem Privatrecht gab. Während öffentliche Stellen des Bundes nach dem Behindertengleichstellungsgesetz zur Umsetzung der Barrierefreiheit verpflichtet sind und öffentliche Stellen der Länder nach dem jeweiligen Landesbehindertengleichstellungsgesetzen, fehlte eine solche Regelung für die Privatwirtschaft.
Die Verbindung zum AI Act liegt aus meiner Perspektive einerseits in der technischen Umsetzung. Beispielsweise wenn Alternativtexte von KI generiert werden, diese Ergebnisse nützlich sind und die KI keine weiteren Barrieren aufbauen darf. Andererseits gibt es Parallelen zwischen den Richtlinien wie dem EAA, der EU-Webseitenrichtlinie und dem AI Act: Eine Überwachung wurde beispielsweise in allen Richtlinien verankert.
An wen richtet sich das Gesetz und was verändert sich mit dem Inkrafttreten konkret im Alltag von Unternehmen und Nutzer*innen?
Das Gesetz richtet sich in erster Linie an Unternehmen, vor allem an Hersteller, Händler und Importeure der erfassten Produkte sowie die Dienstleistungserbringer.
Das Gesetz verändert das Mindset, mit dem Unternehmen zukünftig agieren müssen. Produkte und Dienstleistungen unterliegen höheren Anforderungen, müssen aber gleichzeitig massenkompatibel sein. Diese bestehenden Prozesse müssen aufgebrochen sowie neu durchdacht werden und die Barrierefreiheit muss von Anfang an eingeplant werden. Daraus ergeben sich viele positive Aspekte, die den Unternehmen viele Möglichkeiten bieten.
Wo sehen Sie die größten Herausforderungen bei der Umsetzung des BFSG – insbesondere im digitalen Bereich?
Die größte Herausforderung sehe ich in der sich stetig weiterentwickelnden Technik, die irgendwann die vorhandenen Regelwerke überholen wird. Dieses Zeitfenster muss rechtzeitig erkannt und in eine rechtlich handhabbare Form gegossen werden.
Technisch bin ich gespannt, wie sich die unterschiedlichen barrierefreien Produkte und Dienstleistungen auf dem Markt positionieren werden, die ja dann für alle Menschen nutzbar sind. Das Ziel, die Marktführerrolle hierbei anzustreben, sollte für jedes Unternehmen gelten.
Rein rechtlich bin ich auf die Rechtsprechung gespannt. Denn das Barrierefreiheitsrecht ist eine Art neues Rechtsgebiet, in dem es kaum bis gar keine Vorerfahrungen gibt und keine bisherigen Gerichtsentscheidungen bestehen.
Was würden Sie Anbietern von KI-Produkten und Diensten raten, um frühzeitig barrierefreie Lösungen zu entwickeln?
Die Barrierefreiheit von Anfang miteinzubeziehen wäre der wichtigste Schritt. Die praktische Erfahrung zeigt, dass es wesentlich teurer ist, bei der Planung, Entwicklung und Herstellung die Barrierefreiheit nicht zu berücksichtigen. Im Nachhinein etwas barrierefrei umzusetzen, ist oft ein mühseliger, kostenintensiver Prozess, der auf allen Seiten Frustration hervorruft. Die Anbieter sollten sich der Herausforderung stellen – ich kann ihnen versprechen, es lohnt sich.
Wie kann aus Ihrer Sicht das Projektteam von KI-Kompass Inklusiv das BFSG und die digitale Barrierefreiheit unterstützen?
Indem es ausgewogen und interessiert über die stetige Entwicklung berichtet. Es gibt zahlreiche interessante Aspekte, die an so vielen Schnittstellen sitzen. Die Beantwortung von Fragen wie „Wie agiert die Marktüberwachung?“ über „Welche barrierefreien KI-Lösungen funktionieren in der Praxis?“ bis hin zum europäischen Blick auf die anderen Länder und den dortigen Umsetzungsstand. Diese genannten Gesichtspunkte können das Thema Barrierefreiheit weiter in den Fokus des Mainstreams bringen.
Außerdem wäre es notwendig, über die vorhandenen KI-Tools, die digitale Barrierefreiheit umsetzen oder dabei unterstützen, kritisch zu berichten. Die automatische Bilderkennung beispielsweise wird immer besser. Bei Übersetzungstools in Leichte Sprache hingegen sind die Ergebnisse noch sehr fehlerhaft. Menschliche Übersetzer müssen hier also immer korrigieren. Dies ist auch bei den automatisch generierten Bildbeschreibungen häufig so.
Bezüglich den sogenannten Overlay-Tools, die Websites angeblich barrierefrei machen sollen, ist es wichtig aufzuklären, dass sie keine echte Lösung sind für digitale Barrierefreiheit. Sie setzen nicht die gesetzlich geforderten Standards um. Stattdessen führen sie häufig zu weiteren Barrieren.
Mehr Aufklärung hierüber in der Öffentlichkeit wäre aus meiner Sicht eine wichtige Aufgabe.
Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz markiert einen Meilenstein auf dem Weg zur inklusiven digitalen Gesellschaft: Es fordert mehr Barrierefreiheit für digitale Produkte und Dienstleistungen und verlangt ein Umdenken bei Unternehmen und Entwickelnden. Damit die Umsetzung gelingt, braucht es fundierte Informationen und praxisnahe Lösungen – und hier setzt KI-Kompass Inklusiv an.
Weiterführende Inhalte finden Sie etwa im Wissenspool zu KI-Technologien für Menschen mit Behinderung → der aktuelle Bericht „KI-Technologien für Menschen mit Behinderungen: Ergebnisse des 1. Technologie-Monitors“ behandelt reale Beispiele zur Unterstützung am Arbeitsplatz. Ein vertiefender Blick auf die Zusammenhänge zwischen regulatorischen Entwicklungen, Künstlicher Intelligenz und Inklusion findet sich in unserem Beitrag „Aktuelle Entwicklungen in KI und Inklusion“.
Foto: Bundesfachstelle Barrierefreiheit