Auticon wurde vor 13 Jahren in Berlin vom Vater eines Autisten gegründet, der feststellte, dass sehr viele Autist*innen trotz hoher Qualifikation und individueller Stärken keine Arbeit auf dem regulären Arbeitsmarkt finden. Das internationale IT-Dienstleistungsunternehmen beschäftigt vorwiegend neurodivergente IT-Spezialist*innen. Das Prinzip: Die Mitarbeitenden werden fest angestellt und in Kundenprojekten eingesetzt, die zu ihnen passen. Bei Bedarf stehen ihnen Jobcoaches zur Seite. Besonders im IT-Bereich sind häufig die Stärken von Autist*innen gefragt. Analytisches Denken, das Erkennen von Mustern und Normabweichungen, kreative Lösungen und direkte Kommunikation – auticons Kund*innen wissen um die besonderen Fähigkeiten der Mitarbeitenden und beauftragen das Unternehmen gerade deswegen.
Welche besonderen Vorteile bringen neurodiverse Teams in die Arbeit mit IT- und im speziellen KI-Projekten ein?
Antwort Ursula Schemm:
Neurodiversität, die „Vielfalt im Denken“, kombiniert unterschiedlichste Perspektiven, Wahrnehmungen und Vorgehensweisen. Das hat konkrete Vorteile, denn die kognitiven Stärken von Autist*innen oder die Innovationskraft und Kreativität von ADHSlern ergänzen und komplettieren die Skills und Stärken der „neurotypischen“ Teammitglieder. Gut etabliert ist Neurodiversität deshalb zum Beispiel in der IT Security. Da geht es darum, durch möglichst viele und unterschiedliche Perspektiven „blinde Flecken“ in Sicherheitsstrategien zu vermeiden, Einfallstore für Attacken und Schwachstellen in Systemen oder Prozessen schneller und genauer aufzuspüren und neue innovative Lösungen zu entwickeln, mit denen man Angreifern einen Schritt voraus ist. Unser Kunde Siemens stellt zum Beispiel gezielt autistische Fachkräfte für seine Cyber Security-Abteilungen ein (Quelle: Siemens Case Study – auticon Deutschland).
Bei neuen Technologiebereichen wie KI sind neurodivergente Menschen auch oft diejenigen, die die Entwicklung vorantreiben. Sie können sehr leidenschaftlich bezüglich ihrer Interessengebiete sein, sind häufig sehr wissbegierig und finden für Probleme Lösungswege, auf die neurotypische Menschen nicht kommen. Dafür tun sie sich vielleicht mit anderen Dingen schwer. Jeder von uns hat Stärken und Schwächen. Es ist die Summe der Fähigkeiten und Charaktereigenschaften und die sinnvolle Verteilung von Aufgaben nach Kompetenzen, die ein Team erfolgreich machen.
Setzt auticon KI ein, um inklusive Arbeitsumgebungen zu fördern oder zu gestalten? Wenn ja, wie?
Antwort Marc Ristau:
Wir haben bei auticon Deutschland rund 75% neurodivergente IT-Spezialist*innen. Viele sind aus fachlichem und persönlichem Interesse heraus an KI interessiert, sodass sich schon früh Arbeitsgemeinschaften gebildet haben, die die Möglichkeiten ausloten. Es werden versuchsweise verschiedene KI-Tools gebucht und evaluiert, auch der Einsatz in unterschiedlichen Abteilungen und Fachbereichen wird getestet. Die Unterstützung neurodivergenter Kolleg*innen gehen wir individuell und in enger Zusammenarbeit mit den Jobcoaches an. Mitarbeitenden mit Dyslexie wird zum Beispiel empfohlen, diese durch Large Language Modells (LLMs) und Natural Language Processing (NLP) zu kompensieren. LLMs werden auch genutzt, um die Vielzahl an bestehenden Texten einfach auf neurodivergente Anforderungen hin optimieren zu können.
Welche Herausforderungen sehen Sie bei der Entwicklung und Anwendung von KI, um die Bedürfnisse von Autist*innen besser zu berücksichtigen?
Antwort Marc Ristau:
Mensch-Technik-Interaktion ist teilweise inhärent von autistischer Perspektive geprägt, da viele autistische Entwickler*innen die IT mitgestalten. Bei KI sind die Trainingsdaten jedoch aufgrund der Bevölkerungsstruktur an „neurotypischen“, nicht-neurodivergenten Standards orientiert. Sie reflektieren die Wahrnehmung und Denkweise der Mehrheit der Menschen und nicht die von uns Autist*innen. Selbst wenn explizit nach unserer autistischen Perspektive gefragt wird, kann die nicht-autistische Perspektive weiterhin dominieren und zu verzerrten Ergebnissen führen. Insofern ist es relevant, Autist*innen beim Alignment zu involvieren. Studien haben gezeigt, dass Autist*innen auch eher das „Große Ganze“ im Blick haben und statistisch gesehen sogar geeigneter sind, die neurotypische Perspektive mitzudenken als umgekehrt.
Inwiefern können KI-Technologien Vorurteile in inklusiven Arbeitsmodellen minimieren oder verstärken?
Antwort Marc Ristau:
KI bietet die Chance, durch den einfachen Zugriff auf das Wissen der Welt mehr über Neurodiversität zu lernen. Aber die ausgegebenen Texte sind häufig von veralteten Wissensständen geprägt, und auch die Sprache reflektiert nicht aktuelle Diskussionen wie die zu Identity-First Language (IFL) versus Person-First Language (PFL). Das führt dazu, dass die Texte Formulierungen enthalten wie z.B. „Mensch mit Autismus“, was heute von vielen Autist*innen als diskriminierend empfunden wird. Obwohl dieses Wissen in den Trainingsdaten bereits enthalten ist, wird es dennoch in den seltensten Fällen berücksichtigt, wenn nicht explizit danach geprompted wird – und selbst dann funktioniert das nicht zuverlässig.
Welche Trends sehen Sie in der Zukunft von KI, die besonders wichtig für Inklusion und Diversität sind?
Antwort Tobias Thesing:
Obwohl es natürlich diverse Gefahren wie z. B. Bias in den Trainingsdaten gibt, ist KI auch eine große Chance im Bereich Inklusion. LLMs können u. a. genutzt werden, um Texte ohne großen Aufwand inklusiver zu gestalten oder um neurodivergenten Menschen einen besseren Zugang zu Informationen und Kommunikationskanälen zu ermöglichen.
Welche Rolle kann KI spielen, um Barrieren für Menschen mit Behinderungen oder neurodiversen Hintergründen abzubauen?
Antwort Tobias Thesing:
Eine KI versteht Fragen und Anweisungen meist etwas anders als viele Menschen, weshalb auch geschicktes Prompting der Schlüssel zum erfolgreichen Umgang mit ihr ist. Diese Vorgehensweise ist mit den Schwierigkeiten vergleichbar, die wir als Autist*innen haben, mit neurotypischen Menschen eindeutig zu kommunizieren – und natürlich auch umgekehrt. Eine allgemeine Übung darin, sich in fremde Denkstrukturen hineinzuversetzen, kann dabei helfen, besser zusammenzuarbeiten.
Haben Sie ein Erfolgsbeispiel, das zeigt, wie KI und Inklusion gemeinsam zu innovativen Lösungen führen können?
Antwort Tobias Thesing:
Da wir bei auticon viel Wert darauflegen, dass Projekt und Consultant gut zusammenpassen, arbeiten wir an einer Software, die mittels KI die Projektanforderungen und unsere Consultant-Profile analysiert und entsprechend Vorschläge liefert. Unsere Projektmanagement- und Sales-Teams waren bereits in den ersten Testvorführungen des internen Prototypen begeistert von den Möglichkeiten einer solchen Anwendung.
Antwort Marc Ristau:
In dem Projekt ‚Deep Turnaround‘ für den Schiphol International Airport Amsterdam wurde ein Modell trainiert, das per Videobild Sicherheitsüberprüfungen und die Überwachung von Abfertigungsprozessen, wie das Auftanken, automatisieren konnte. Die Annotation von Videomaterial mit derart sicherheitskritischer Relevanz erfordert hohe Genauigkeit, was erst durch Annotation mit autistischer Präzision möglich geworden ist. Dieses System hat dazu geführt, dass Effizienz, Durchsatz, Sicherheit und weitere Qualitätskriterien verbessert werden konnten. Es wird nun auch international für weitere Flughäfen als Dienstleistung angeboten und durch die dazu kommenden Trainingsdaten stets weiterentwickelt.
Was möchten Sie Unternehmen und der Öffentlichkeit noch mit auf den Weg geben, wenn es um das Thema KI und Inklusion geht?
Antwort Tobias Thesing:
Neurodiverse Teams haben durch ihre unterschiedlichen Perspektiven insgesamt ein besseres Verständnis dafür, wie KI funktioniert und reagiert. Dies kann in vielen Situationen hilfreich sein – von der einfachen Beurteilung, wie sehr sich der Einsatz von KI bei einer Aufgabe lohnt, über gutes Prompt Engineering, bis hin zu wertvollen Beiträgen im immer wichtiger werdenden Gebiet der KI-Safety.
Foto: KI-Kompass Inklusiv